Molekulare Autopsie: Verfrühte Todesfälle aufklären (2024)

Molekulare Autopsie: Verfrühte Todesfälle aufklären (1)Molekulare Autopsie: Verfrühte Todesfälle aufklären (2)

Postmortale molekulargenetische Untersuchungen tragen bei unklaren frühzeitigen Todesfällen zur Aufklärung bei und eröffnen im Falle genetisch bedingter Herzerkrankungen Möglichkeiten der familiären Prävention. Nun wurden Handlungsempfehlungen für die molekulare Autopsie herausgegeben.

Molekulare Autopsie: Verfrühte Todesfälle aufklären (3)

Nach einem plötzlichen Herztod kann eine molekulare Autopsie mögliche genetisch be dingte Todesursachen aufspüren. Foto: mauritius images/Science Picture Co

Ein unerwarteter Tod oder ein plötzlicher Herztod (sudden cardiac death, SCD) bei einem scheinbar gesunden Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen ist ein seltenes und immer tragisches Ereignis. So sterben in Deutschland jährlich etwa 65000 Menschen an einem plötzlichen Herztod, gut 40% davon sind zwischen 15 und 65 Jahren alt (1).

Die Aufklärung möglicher Ursachen eines plötzlichen, unklaren Herztodes erfolgt derzeit in Deutschland nur sporadisch und nicht konsequent, die Dunkelziffern unklarer beziehungsweise nicht untersuchter Todesfälle sind vermutlich hoch. Zudem bleiben zahlreiche solcher Fälle in jungem Alter trotz detaillierter, klassischer Obduktion sowie toxikologischer und histologischer Untersuchungen oft ungeklärt. Bei etwa der Hälfte der plötzlichen oder unklaren Todesfälle bei Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen unter40 Jahren – sei es zum Beispiel ein plötzlicher Kindstod, Badetod, Sportlertod oder unerwarteter nächtlicher Tod – könnte eine genetisch bedingte Erkrankung des Herzens wie eine Kardiomyopathie oder ein angeborenes Arrhythmie-Syndrom vorliegen.

Tod zeigt Erkrankung auf

Diese Erkrankungen können oft asymptomatisch beziehungsweise episodisch verlaufen und sich erstmals als plötzlicher (Herz-)Tod zeigen. Aufgrund der genetischen Ursächlichkeit und damit Vererbbarkeit ist das Risiko, dass biologisch Verwandte ebenfalls Genträger sind, hoch (25–50%, je nach Erbmodus, wenn nicht de novo).

Einerseits können Angehörige des Indexfalles ebenfalls betroffen sein, ohne von ihrer Erkrankung zu wissen beziehungsweise erstmals symptomatisch gewesen zu sein. Sie würden jedoch ebenfalls ein erhöhtes Risiko für den plötzlichen Herztod haben. Andererseits bleibt bei ungeklärter Todesursache bei den Angehörigen die Ungewissheit, dass sie ebenfalls (genetische) Anlagen für eine potenziell tödliche Erkrankung tragen könnten.

Die definitive Diagnosestellung für den Verstorbenen und die Untersuchung beziehungsweise entsprechende Beratung der Verbliebenen bei einer möglicherweise erblichen Herzerkrankung trägt daher dazu bei, weitere betroffene Familienangehörige präventiv erkennen und beraten zu können. Zur Vermeidung weiterer Herztodesfälle gibt es verschiedene prophylaktische Maßnahmen wie die Vermeidung von Arrhythmietriggern (Lebensstilmodifikation, Anpassung der körperlichen oder emotionalen Belastung), die Initiierung medikamentöser Therapien oder eine Implantation eines Kardioverter-Defibrillators (ICD) in Hochrisikofällen.

Postmortale Stufendiagnostik

In Deutschland gibt es bislang keine detaillierten Handlungsempfehlungen, wie bei Fällen von unklaren, frühzeitigen (Herz-)Todesfällen im Rahmen einer klinischen oder forensischen Sektion (Obduktion) vorgegangen werden sollte, wenn (a) eine definitive Feststellung der Ursache des Todesfalles nicht gelingt oder (b) eine erbliche (Herz-)Erkrankung als ursächlich identifiziert wird. Bei beiden Szenarien ist eine postmortale Gendiagnostik, auch „molekulare Autopsie“, zum Nachweis von Sequenzveränderungen, die entweder selbst die Todesursache oder eine Prädisposition für den Tod unter kritischer Belastung darstellen können, im Rahmen einer postmortalen Stufendiagnostik von Bedeutung. Ein positiver, postmortal erhobener genetischer Befund hat unmittelbare Relevanz für biologisch Verwandte, weil dann eine Heterozygotendiagnostik, das heißt der Nachweis oder der Ausschluss der initialen Genveränderung, möglich wird.

5 Fachgesellschaften, die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie, die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie, die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin, die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik und die Deutsche Gesellschaft für Pathologie, haben daher gemeinsam Handlungsempfehlungen für die molekulare Autopsie bei plötzlichen kardiovaskulären und bei ungeklärten Todesfällen verfasst. Diese sollen neben der nach Möglichkeit definitiven Todesursachenklärung im verstorbenen Indexfall vor allem aber auch durch konsequente Familienaufarbeitung und Beratung (kardiologisch/kinderkardiologisch/genetisch) präventiv helfen.

Die in einem aktuellen Konsensuspapier veröffentlichten Expertenempfehlungen beschäftigen sich mit der Notwendigkeit, Indikation und Durchführung einer molekularen Autopsie im Rahmen einer postmortalen Stufendiagnostik und definitiven Todesursachenklärung, insbesondere bei unklaren Todesfällen im Alter unter 40 Jahren (2). Darüber hinaus werden aber auch die derzeitigen Rahmenbedingungen für eine solche Untersuchung genannt und Empfehlungen zur systematischen Untersuchung der Familienmitglieder gegeben.

Im Fall des Todes eines Neugeborenen, Kindes, Jugendlichen oder Erwachsenen vor dem 40. Lebensjahr empfehlen die Experten grundsätzlich immer eine Obduktion mit entsprechender Materialasservierung durchzuführen, wenn keine hinreichende Erklärung beziehungsweise offensichtliche Todesursache (z. B. chronische oder maligne Erkrankung) bekannt ist oder spezifische Hinweise auf eine kardiale Erkrankung vorliegen (Klasse IC-Empfehlung). Die frühzeitige Asservierung von geeignetem Material (z. B. unmittelbar postmortal abgenommene EDTA-Blutprobe oder Entnahme von nichtautolytischem Gewebe) im Umfeld einer Todesfeststellung ist zudem essenziell, um eine spätere, postmortale genetische Untersuchung sicherzustellen. Das Material sollte nach vorheriger Einwilligung zur Entnahme durch einen Totensorgeberechtigten (z. B. Angehörige oder biologisch Verwandte) zur Untersuchung an eine entsprechende Referenzinstitution weitergeleitet werden.

Weiterhin empfehlen die Fachgesellschaften im Rahmen der klinischen oder forensischen Obduktion explizit auch eine kardiopathologische Untersuchung vorzunehmen, wenn zuvor keine Todesursache identifiziert worden ist und/oder spezifische Kardiomyopathiebefunde vorliegen (Klasse-IC-Empfehlung). Diese beinhaltet die makroskopische, die mikroskopische und gegebenenfalls immunhistochemische und/oder elektronenmikroskopische Untersuchung des Herzens durch spezialisierte Einrichtungen mit erfahrenen Kardiopathologen.

Neben der postmortalen Stufendiagnostik im Rahmen einer Obduktion wird immer eine umfassende retrospektive Anamneseerhebung (z. B. in Bezug auf Vorerkrankungen und Symptome, Zeugenberichte im Umfeld des Todes, körperliche Betätigung und Ort bei Ereignis, Todeszeitpunkt, mögliche auslösende Faktoren, medikamentöse Dauertherapie, Einnahme von Drogen oder Alkohol etc.) unter Einbindung der behandelnden Ärzte empfohlen. Ebenso wird bei Trägern eines kardialen Implantates mit der Möglichkeit einer Herzrhythmusabfrage (z. B. ICD, Schrittmacher, Event-Recorder, Langzeit-EKG) empfohlen, eventuell wegweisende Daten zum Todeszeitpunkt durch einen ausgebildeten Facharzt auslesen zu lassen (Klasse-IC-Empfehlung).

Zusätzlich sollte obligatorisch eine ausführliche Familienanamnese (z. B. spezifische Erkrankungen, Synkopen, plötzliche Herztode oder Krampfanfälle, ungeklärte Unfälle) erfolgen (Grafik).

Grafik

Postmortale Stufendiagnostik

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Molekulare Autopsie

Die molekulare Autopsie stellt im Rahmen der Stufendiagnostik bei einer Autopsie eines SCD beziehungsweise bei unklarem frühzeitigen Tod eine weitere wichtige Untersuchungsmethode dar (3, 4, 5). Je nach Umfang der Genanalytik (einige Gene, Genpanel oder Exomsequenzierung) und Variantenklassifizierung variiert die Sensitivität (Mutationsdetektionsrate) der genetischen Untersuchung bei SCD-Fällen zwischen 13–32% (6, 7, 8) und beträgt beim plötzlichen Kindstod (SIDS) weniger als 15% (9, 10). Der Anteil genetisch bedingter Todesursachen ist besonders in Fällen junger plötzlich Verstorbener hoch, aber mitunter auch bei bis zu 60-jährigen Personen relevant (11). Im Fall eines ungeklärten Todes bei einem Patienten unter 40 Jahren sollte daher im Rahmen der Obduktion neben der kardiopathologischen Untersuchung die molekulare Autopsie erwogen werden. Ebenso sollte im Fall eines aufgeklärten Herztodesfalles (z. B. durch Kardiomyopathie bedingt) eine gezielte, genetische Ursachenklärung (indikationsbezogen) erfolgen, wenn eine erbliche kardiovaskuläre Komponente wahrscheinlich ist (Klasse-IIa-(C-)Empfehlungen).

Die Indikation zur Durchführung einer postmortalen molekulargenetischen Untersuchung sollte dabei im Rahmen der klinischen oder rechtsmedizinischen Obduktion durch den jeweiligen Obduzenten oder gegebenenfalls durch den bis zum Tode behandelnden Arzt (intra-/extrahospital) gestellt werden und die Untersuchung initiiert werden. In der Regel erfordert die Indikationsstellung beziehungsweise Veranlassung einer molekularen Autopsie eine multi- und interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen (Kinderkardiologie/Kardiologie/Herzgenetiker, Pathologie oder Rechtsmedizin, Humangenetiker, Juristen, Palliativmediziner oder Ethiker). Die klinischen Daten können anschließend in Zusammenschau mit den Ergebnissen der rechtsmedizinischen, pathologischen sowie genetischen Untersuchungen des Verstorben in diesem multidisziplinären Board zusammengebracht und bewertet werden. Durch die konsequente Aufklärung des Todesfalles wird damit – neben der familiären Prävention – ein wesentlicher Beitrag zur Linderung des Leidensdrucks in betroffenen Familien geleistet.

Obwohl postmortale molekulargenetische Untersuchungen nicht unter den Anwendungsbereich des Gendiagnostikgesetzes (GenDG, § 2 Abs. 1 und Abs. 2) fallen, erscheint es dennoch plausibel, die Vorgaben des GenDG auch auf eine postmortale genetische Untersuchung zu übertragen, da es sich um eine genetische Untersuchung beziehungsweise genetische Analyse in Analogie zu GenDG § 3 Abs. (1) und (2) handelt.

Obgleich die Abschnitte § 8 (Aufklärung), §9 (Einwilligung) und §10 (Genetische Beratung) des GenDG keine Anwendung finden können, sollten sie unter Einbeziehung betroffener Angehöriger, insbesondere biologisch Verwandter (Eltern, Kinder, Enkel, Geschwister), der verstorbenen Person analog durchgeführt und gehandhabt werden.

Verschiedene internationale Fachgesellschaften haben sich bereits in der Vergangenheit der Thematik der molekularen Autopsie gewidmet und machen auf die Notwendigkeit zur Einrichtung eines multidisziplinären Teams, auf die Durchführung der molekularen Untersuchungen, die Interpretation der verfügbaren, klinischen und genetischen Daten und den weiteren Umgang mit Familienmitgliedern aufmerksam.

Mit der Etablierung eines strukturierten Verfahrens soll eine Überleitung der Ergebnisse aus dem Obduktionsbereich in die Klinik zur effizienten Einleitung von präventiven Maßnahmen in den betroffenen Familien erzielt werden. Das Konsensuspapier dient somit der Verbesserung der Todesursachenklärung, aber auch der Verbesserung der Versorgungsqualität in Bezug auf die Prävention von weiteren Herztodesfällen in betroffenen Familien.

Prof. Dr. med. Silke Kauferstein

Institut für Rechtsmedizin,
Universitätsklinikum Frankfurt

PD Dr. med. Cordula Wolf

Klinik für angeborene Herzfehler und Kinderkardiologie, Deutsches Herzzentrum München; Technische Universität München; Deutsches Zentrum für Herz- und Kreislauferkrankungen

Prof. Dr. med. Heribert Schunkert,

Klinik für Herz- und Kreislauferkrankungen im Erwachsenenalter, Deutsches Herzzentrum München; Technische Universität München; Deutsches Zentrum für Herz- und Kreislauferkrankungen

Prof. Dr. med. Rainer M. Bohle

Institut für Pathologie, Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg (Saar)

Prof. Dr. med. Thomas Bajanowski

Institut für Rechtsmedizin,
Universität Duisburg-Essen, Essen

Prof. Dr. med. Eric Schulze-Bahr

Institut für Genetik von Herzerkrankungen, Universitätsklinikum Münster, Münster; European Reference Network (ERN) GUARD-HEART

Interessenkonflikte: Prof. Kauferstein erhielt Gutachterhonorare von verschiedenen Staatsanwaltschaften; PD Dr. Wolf erhielt Beraterhonorare von Myokardia, Bristol-Myers Squibb und NovoNordisk. Die anderen Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

Der Beitrag unterlag keinem Peer-Review-Verfahren.

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit1221
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