Feststellen des natürlichen Todes: Möglichkeiten und Grenzen der ärztlichen Leichenschau (2024)

Feststellen des natürlichen Todes: Möglichkeiten und Grenzen der ärztlichen Leichenschau (1)Feststellen des natürlichen Todes: Möglichkeiten und Grenzen der ärztlichen Leichenschau (2)

Seit Jahren wird immer wieder auf Fehler bei der äußeren ärztlichen Leichenschau hingewiesen. Dabei ist sie das zentrale Instrument, um nicht natürliche Tode zu erkennen. Eine natürliche Todesursache lässt sich jedoch anhand von 4 Informationsquellen mit unterschiedlicher Sicherheit feststellen.

Feststellen des natürlichen Todes: Möglichkeiten und Grenzen der ärztlichen Leichenschau (3)

Vier Informationsquellen für die Diagnose der Todesursache: am Leichnam erkennbare Befunde, Vorgeschichte beziehungsweise Krankenunterlagen, Umstände des Todeseintritts, Leichenfundort beziehungsweise Auffindesituation. Foto: picture alliance/Bildagentur-online Joko

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts verstarben 2022 in Deutschland insgesamt 1060184 Menschen, darunter 530865 Frauen und 529319 Männer (1). Das mittlere Sterbealter betrug bei Frauen 82,1, bei Männern 76,5 und im Durchschnitt 79,3 Jahre (Stand 2021). Ein natürlicher Tod wurde 2021 in 86,0%, eine ungeklärte oder nicht natürliche Todesart in 14,0% der Fälle attestiert. Führende Todesursachen bei den als natürlicher Tod klassifizierten Fällen waren Erkrankungen des Kreislaufsystems (33,3%) und Neubildungen (23,2%). Bei den als nicht natürlicher Tod attestierten Fälle dominierten nicht näher spezifizierte äußere Ursachen von Morbidität und Mortalität (4,2%), Unfälle einschließlich Spätfolgen (3,1%) sowie Stürze (1,8%) und vorsätzliche Selbstbeschädigung (0,9%).

Laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) ereigneten sich 2021 hierzulande (2):

  • 3077 Straftaten gegen das Leben einer Person,
  • 622 Tötungsdelikte,
  • 1549 Fälle von Totschlag (§212 Strafgesetzbuch [StGB]) und
  • insgesamt 572219 Körperverletzungsdelikte (§§223–227, 229, 231 StGB), davon 205 mit Todesfolge.

Hohe Dunkelziffer

Neben diesen im polizeilichen Hellfeld liegenden Straftaten dürfte jedoch eine erhebliche Anzahl an nicht erkannten Tötungsdelikten in dem der Kriminalität immanenten Dunkelfeld liegen. Naturgemäß existieren zu der Dunkelziffer keine validen absoluten Zahlen.

Das zentrale Instrument zum Erkennen gewaltsamer Todesfälle, aber auch gesellschaftlich relevanter Veränderungen der Sterbeursachen ist die äußere Leichenschau. Entsprechend der landesspezifisch gültigen Bestattungsgesetze, zum Beispiel BestattG Baden-Württemberg (BW, vom 21. Juli 1970, zuletzt geändert am 3. Februar 2021), sind Angehörige, Personen, in deren Wohnung, Einrichtung oder auf deren Grundstück“ eine Person verstorben ist, oder „jede Person, die bei dem Tode zugegen war“, verpflichtet, unverzüglich eine Leichenschau zu veranlassen (BestattG BW §21, Abs. 1). Nach Erhalt der Todesanzeige sind mit wenigen Ausnahmen sämtliche Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, unverzüglich die Leichenschau an der unbekleideten Leiche (oder der Totgeburt) persönlich durchzuführen und sie sorgfältig zu untersuchen. Regeln zur Durchführung der ärztlichen Leichenschau sind in einer S1-Leitlinie von 2022 zusammengefasst (3). Weiterhin gibt es immer wieder in deutschsprachigen fächerübergreifenden Zeitschriften Hinweise zu deren korrekter Durchführung (4, 5).

Ergeben sich während der Leichenschau Anhaltspunkte für einen nicht natürlichen Tod, zum Beispiel durch Selbsttötung, Unfall oder Fremdeinwirkung, muss der durchführende Arzt oder die durchführende Ärztin die Leichenschau abbrechen. Weiterhin muss er oder sie unverzüglich die Polizeibehörde unterrichten und dafür Sorge tragen, dass bis zum Eintreffen der Polizei am Toten und in dessen Umgebung keine Veränderungen vorgenommen werden (BestattG BW §22, Abs. 3). Ebenfalls meldepflichtig sind unklare Todesfälle sowie unbekannte Verstorbene. Nur bei Beachtung dieser Anzeigepflichten kann ein Todesermittlungsverfahren gemäß §159 der Strafprozessordnung (StPO) eingeleitet werden, in dem die Staatsanwaltschaft die weiteren Maßnahmen verantwortet.

Mögliche Probleme

Damit liegt es in der Verantwortung der die Leichenschau durchführenden Ärzte und Ärztinnen, ob es überhaupt zu weiteren Untersuchungen beziehungsweise Ermittlungen kommt. Besondere Bedeutung hat dabei die Diagnose einer natürlichen Todesart. Denn diese ist als einzige nicht meldepflichtig und in der Regel folgt die Freigabe des Leichnams zur Bestattung oder Kremation. Letztere erfordert in den meisten, aber nicht allen Bundesländern eine weitere, zweite Leichenschau.

Es existieren zahlreiche Tools, um die Qualität der ärztlichen Leichenschau sicherzustellen. Mit diesen ist jeder Arzt und jede Ärztin in der Lage, eine Leichenschau durchzuführen. Neben der Ausbildung im Rahmen des Medizinstudiums und von einschlägigen Fortbildungsangeboten wird das Vorgehen auch in den amtlichen Vordrucken der Todesbescheinigungen detailliert beschrieben. Dennoch sind Probleme hinsichtlich Durchführung und Qualität der Leichenschau hinlänglich bekannt (6, 7, 8, 9, 10). Schwierigkeiten bei der Feststellung der Todesursachen entstehen unter anderem durch:

  • einen Mangel an verfügbaren Informationen über die verstorbene Person zum Zeitpunkt der Leichenschau,
  • durch fachliche Unkenntnis und/oder oberflächliche Arbeitsweise oder
  • durch mangelnde Erfahrung mit peri- oder postmortalen Befunden.

Defizite bei der ärztlichen Leichenschau und somit Ursache für das fehlerhafte Attestieren der Todesart oder Todesursache können aber auch strukturell bedingt sein, etwa durch das Fehlen bundeseinheitlicher Regelungen oder Todesbescheinigungen (9).

Ziel des vorliegenden Artikel ist es, die Möglichkeiten und Grenzen der Diagnostik des natürlichen Todes im Rahmen der ärztlichen Leichenschau aufzuzeigen. Den Durchführenden wird eine neue Entscheidungshilfe an die Hand gegeben, in welchen Fällen ein natürlicher Tod attestiert, in Erwägung gezogen oder auch ausgeschlossen werden kann. Die Diagnose eines natürlichen Todes soll dadurch klarer und letztendlich sicherer werden, denn diese Diagnose, zumal sie ein anschließendes Todesermittlungsverfahren ausschließt, stellt wichtige Weichen.

Die Ausarbeitung der im Folgenden vorgestellten Kriterien zur Diagnostik einer natürlichen Todesart erfolgte im Rahmen einer Studie zur ärztlichen Leichenschau, die im Auftrag der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen erstellt wurde (11). Als Grundlage für die Studie dienten die langjährige Erfahrung der Autorinnen bei der Durchführung ärztlicher und forensischer Leichenschauen sowie die in dem Gutachten angeführte Literatur.

Vier Informationsquellen

So sorgfältig die Durchführung einer äußeren Leichenschau auch sein mag: Klar ist, dass sie der Todesursachenfindung durch eine Obduktion immer unterlegen sein wird. Diese Tatsache ist spätestens seit der Görlitzer Studie bekannt (12). Diese ergab, dass bei 45,0% der Männer und 48,8% der Frauen die Leichenschaudiagnose mit der Obduktionsdiagnose nicht übereinstimmte. Grundsätzlich muss also davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Befunde äußerlich nicht sichtbar und daher einer äußeren Leichenschau nicht zugänglich sind. Beispielsweise gehen tödliche Herzereignisse, Lungenembolien und Blutungen innerhalb der Schädelhöhle eher selten mit richtungsweisenden äußeren Befunden einher (eTabelle). Ist keine Person zugegen, die den Sterbeprozess beobachtet hat und die Symptomatik zum Zeitpunkt des Versterbens beschreiben kann, lässt sich die Todesursache oftmals nur in Zusammenschau mit den Informationen aus der Krankenvorgeschichte des oder der Verstorbenen und gegebenenfalls der Auffindesituation vermuten. Methodisch bedingt bleibt bei der äußeren Leichenschau immer eine gewisse diagnostische Unsicherheit.

Tabelle

Häufige Befunde mit Verwechselungsgefahr

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Dennoch kann eine sorgfältig und gesetzeskonform durchgeführte Leichenschau in vielen Fällen entscheidende Hinweise auf das todesursächliche Geschehen liefern. Um eine Diagnose stellen zu können, stehen bei der Leichenschau grundsätzlich vier wesentliche Informationsquellen zur Verfügung (Grafik 1):

Grafik 1

Entscheidungsbaum

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A:Äußerlich am Leichnam erkennbare Befunde

B:Informationen aus der Vorgeschichte beziehungsweise den Krankenunterlagen

C:Umstände des Todeseintritts – gemeint sind Handlungen, Auffälligkeiten oder Symptome kurz bevor beziehungsweise während des Todeseintritts

D:Leichenfundort beziehungsweise Auffindesituation – gemeint ist die Situation zum Zeitpunkt des Todes beziehungsweise des Auffindens der Leiche, beispielsweise Lage des Leichnams (wo, wie et cetera), Bekleidung, vor Ort vorhandene Spuren und Gegenstände (bei natürlichem Tod etwa hinweisgebende Medikamente), Umgebungsbedingungen (zum Beispiel Kälte, Nässe, Verwahrlosung, Alkoholika) und damit assoziierte Befunde

Durch die systematische Nutzung dieser vier Informationsquellen kann eine Kategorisierung (Grafiken 1 und 2) der Diagnosesicherheit eines zum Tode führenden, krankhaften, inneren Geschehens und somit schlussendlich für die Attestierung einer natürlichen Todesart möglich werden. Als Grundannahme für die Anwendung des im Folgenden vorgestellten Beurteilungsschemas gilt, dass sich im Rahmen der Leichenschau keine Hinweise auf eine nicht natürliche Todesart ergeben. Es liegen also keine Hinweise auf ein gewaltsames Geschehen vor und es bestehen keine Hinweise auf weitere Auffälligkeiten, etwa auf das Umlagern des Leichnams nach dem Tod oder Unstimmigkeiten bezüglich des Todeszeitpunkts. Die nachfolgend dargestellten Konstellationen sollen dem Leichenschauarzt oder -ärztin als Entscheidungshilfe dienen, ob und mit welcher Sicherheit ein natürlicher Tod bescheinigt werden kann. Ergänzend sollte immer die aus B resultierende „Erwartbarkeit“ des Todes mit in die Betrachtung einbezogen werden. Je weniger „erwartet“, je plötzlicher und „überraschender“ der Tod eines Menschen war, umso zurückhaltender sollte generell die Diagnose eines natürlichen Todes gestellt werden (Beispiele in Grafik 2).

Grafik 2

Fallbeispiele zu den einzelnen Kategorien

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Unterschiedliche Sicherheit

I.Ein natürlicher Tod ist mit sehr hoher Sicherheit belegbar: äußerlich am Leichnam erkennbare Befunde (A), die für sich allein die Diagnose eines krankhaften, inneren, todesursächlichen Geschehens mit sehr hoher Sicherheit belegen.

In diese Kategorie fallen lediglich sehr eindeutige und somit sehr wenige Befundkonstellationen. Es muss sich also stets um äußerlich wahrnehmbare Veränderungen handeln, die eine hohe diagnostische Bedeutung in Bezug auf die auslösende Krankheit haben. Andere, nicht mit dem Ableben unmittelbar in Zusammenhang stehende Erkrankungen können diese Veränderungen nicht ebenso gut erklären.

II. Ein natürlicher Tod ist mit sehr hoher Sicherheit belegbar: äußerlich am Leichnam erkennbare Befunde (A), die in Zusammenschau mit der Krankenvorgeschichte und den Fallumständen (B, C und D) die Diagnose eines krankhaften, inneren, todesursächlichen Geschehens mit sehr hoher Sicherheit belegen.

Zu dieser Kategorie zählen Befunde, die einzeln oder in Kombination eine hohe diagnostische Wertigkeit in Bezug auf die auslösende Krankheit haben. Andere, nicht mit dem Ableben unmittelbar in Zusammenhang stehende Erkrankungen können diese Befunde nicht genauso gut erklären. Der Beleg, dass die Erkrankung mit sehr hoher Sicherheit auch zum Tod geführt hat, wird durch die Krankenvorgeschichte und gegebenenfalls weitere Daten aus den Fallumständen erbracht.

III. Ein natürlicher Tod ist mit mittlerer Sicherheit belegbar: äußerlich erkennbare Befunde (A), die in Zusammenschau mit der Krankenvorgeschichte und den Fallumständen (B, C und D) die Diagnose eines krankhaften, inneren, todesursächlichen Geschehens mit mittlerer Sicherheit erlauben.

Hier stehen Befunde im Vordergrund, die einzeln oder in Kombination einen Hinweischarakter in Bezug auf die auslösende Krankheit haben. Sie können aber bei verschiedenen, auch todesursächlich nicht relevanten Zuständen auftreten beziehungsweise schon länger bestanden haben. Nur eine sorgfältige Erhebung der eindeutigen Vor-/Krankengeschichte und/oder eindeutige Umstände des Todes beziehungsweise der Auffindung erlauben die Diagnose einer krankhaften, inneren Todesursache mit ausreichender Sicherheit. In diesen Fällen bleibt es im Ermessen des oder der leichenschauenden Arztes oder Ärztin, ob ein natürlicher oder unklarer Tod bescheinigt wird.

IV. Ein natürlicher Tod ist nicht mit ausreichender Sicherheit belegbar: äußerlich erkennbare Befunde (A) bei unzureichenden oder fehlenden Informationen zur Krankenvorgeschichte, den Fallumständen beziehungsweise der Auffindesituation fehlen konkrete Hinweise auf ein nicht natürliches Geschehen oder sie sind fraglich (C, D).

Auch wenn sich aus den Umständen und der Auffindesituation keine konkreten Hinweise auf ein nicht natürliches Geschehen ergeben, lässt sich eine Diagnose einer krankhaften inneren Todesursache in solchen Fällen meistens nicht mit der erforderlichen Sicherheit stellen (siehe auch [13]).

V. Ein natürlicher Tod ist nicht mit ausreichender Sicherheit belegbar: keine äußerlich erkennbaren oder lediglich unspezifische Befunde bei unzureichenden oder fehlenden Informationen zur Krankenvorgeschichte, den Fallumständen beziehungsweise der Auffindesituation fehlen konkrete Hinweise auf ein nicht natürliches Geschehen oder sie sind fraglich (C, D).

Die Diagnose eines krankhaften, inneren, todesursächlichen Geschehens lässt sich nicht mit ausreichender Sicherheit stellen. Auch ein hohes Lebensalter ist dieser Kategorie zuzuordnen, wenn nicht weitere todesursächlich relevante Befunde bekannt sind. Ein „Tod durch Alter“ ist alleine anhand äußerlich bei der Leichenschau erkennbarer Befunde nicht sicher festzustellen. Dennoch findet sich im Katalog der ICD-10-GM-2023 unter der Kennung R54 die „Senilität“ als mögliche Todesursache. Auch hier verbleibt es in der Verantwortung des oder der leichenschauenden Arztes oder Ärztin, ob ein Alterstod bedingt durch innere Erkrankungen oder ein unklarer Tod bescheinigt wird (14, 15, 16). Zur Entscheidung sollte daher auch bei betagten Personen die Erwartbarkeit des Ablebens in die Diagnostik einbezogen werden.

VI. Sonderform: Keine äußerlich erkennbaren oder lediglich unspezifische Befunde und Tod im Krankenhaus oder Pflegeheim beziehungsweise in engmaschiger ambulanter Betreuung.

Die Diagnose eines stattgehabten krankhaften, inneren, todesursächlichen Geschehens kann je nach vorliegenden Erkrankungen und dem dokumentierten Verlauf zwischen sehr hoher bis zu unzureichender Sicherheit variieren. Nicht selten handelt es sich dabei um Fälle, bei denen die Todesursache nicht auf Basis äußerlich erkennbarer Befunde festgestellt werden kann, da solche nicht oder nicht in genügender Deutlichkeit vorhanden sind. Daher spielen die Krankenvorgeschichte und der Verlauf in den Wochen, Tagen und Stunden vor dem Todeseintritt beziehungsweise wiederum die „Erwartbarkeit“ des Todes eine entscheidende Rolle.

Besonderheit Petechien

Ein aus rechtsmedizinischer Sicht im Kontext der äußeren Leichenschau besonders zu erwähnender Befund sind die makroskopisch erkennbaren punkt- oder kleinfleckförmigen Blutungen (Petechien) in Haut beziehungsweise Schleimhäuten von Kopf und Hals. Diese sind außerordentlich bedeutend. Denn Petechien können sowohl im Rahmen eines natürlichen Todes, etwa nach Wiederbelebungsmaßnahmen, entstehen als auch einziges äußerlich sichtbares Zeichen eines Erstickungstodes sein (Tabelle). Sind Petechien vorhanden, muss daher immer deren Ursache abgeklärt und eine Erstickung, zum Beispiel nach Würgen, Drosseln oder Druck auf den Brustkorb, zwingend ausgeschlossen werden. Im Zweifel wäre ein unklarer Tod zu attestieren.

Ergänzend soll darauf hingewiesen werden, dass selbst bei einer sehr hohen Diagnosesicherheit eine Restunsicherheit bleibt beziehungsweise akzeptiert werden muss. Die meisten Vergiftungen oder gewisse Erstickungsformen lassen sich äußerlich auch bei höchster Sorgfalt und idealen Bedingungen bei der Leichenschau nicht erkennen (17).

Die Feststellung eines natürlichen Todes setzt voraus, dass keine kritische Auffindesituation beziehungsweise keine als kritisch zu bewertenden Fallumstände vorliegen. Dazu zählen unter anderem das Auffinden eines Leichnams im Wasser oder ein Hinweis auf eine Manipulation am Leichnam nach dem Ableben (Kasten mit ausführlicher Aufstellung und Beispiele in Grafik 2). Ist dies der Fall, sind alle weiteren Schlussfolgerungen mit großer Vorsicht zu treffen. In solchen Situationen besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen gewaltsamen Todesfall handeln könnte. Die angeführten kritischen Auffindesituationen sind auch so zu verstehen, dass diese häufiger einen erhöhten Aufwand für die Abklärung bedingen. Zudem stellt der sichere Nachweis eines natürlichen Todes höhere Anforderungen an die mit der Leichenschau betraute Person.

Wichtig anzumerken ist abschließend, dass die fachliche Verantwortung für die Leichenschau und das Ausfüllen der Todesbescheinigungen allein bei den Ärzten oder Ärztinnen liegt, die die Leichenschau durchführen. Sie sollten die Diagnose möglichst auf Basis objektiver Befunde und Informationen stellen. Ein unsorgfältiges Vorgehen ist ebenso zu vermeiden wie eine vorschnelle Diagnose eines natürlichen Todes, vor allem wenn keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen. Die korrekte Beurteilung der Todesart ist wesentlich. Sie hat eine hohe rechtliche, gesundheitspolitische, gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung. Fehleinschätzungen können erhebliche Konsequenzen haben, die vom Verlust von Versicherungsansprüchen Angehöriger bis hin zu weiteren – vermeidbaren – Todesfällen nach zum Beispiel nicht erkannter vorsätzlicher Tötung reichen.

Fazit für die Praxis

  • Zur Feststellung der Todesursache dienen im Rahmen der Leichenschau vier wesentliche Informationsquellen:

A: am Leichnam selbst erkennbaren Befunde

B: Informationen aus der Vorgeschichte beziehungsweise den Krankenunterlagen

C: Umstände des Todeseintritts

D: Leichenfundort beziehungsweise die Auffindesituation selbst

  • Verschiedene Befundkonstellationen (A) können in Zusammenschau mit den im Einzelfall jeweils erhebbaren zusätzlichen Informationen (Fallumstände, B-D) zu einer unterschiedlichen Aussagesicherheit im Hinblick auf die Todesursache führen. Sind alle unter A–D genannten Informationen erhältlich, so erhöht sich die Sicherheit in vielen Fällen.
  • Bei Todesfällen infolge weit fortgeschrittener Erkrankungen aus innerer Ursache spielt zudem die Erwartbarkeit des Todes eine erhebliche Rolle.
  • Bei der Beurteilung steht immer der konkrete Einzelfall sowie die für diesen Fall zutreffende Gesamtschau aus Fallumständen und Befunden im Vordergrund.
  • Bei der ärztlichen Leichenschau ist stets darauf zu achten, ob eine kritische Auffindesituation vorliegt; hierbei sind höhere Anforderungen an den sicheren Nachweis eines natürlichen Todes zu stellen, zumal die Untersuchungsbedingungen hier nicht selten erschwert sind.

PD Dr. med. Katharina Feld, Dr. med. Emily Ungermann, Prof. Dr. med. univ. Kathrin Yen, Institut für Rechtsmedizin, Medizinische Fakultät der Universität Heidelberg

Interessenkonflikte: PD Dr. Feld und Dr. Ungermann erklären, dass keine Interessenkonflikte bestehen. Prof. Dr. Yen erklärt, Honorare für Gutachtertätigkeiten vom Landeszentrum Gesundheit NRW erhalten sowie Teilnahmegebühren für Kongresse oder andere Veranstaltungen und Reise-/Übernachtungskosten von der Ärztekammer Nordbaden und der Ärzteschaft Radolfzell erstattet bekommen zu haben.

Der Beitrag unterliegt keinen Peer-Review-Verfahren.

eTabelle und Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4723
oder über QR-Code.

Kritische Auffindesituationen aus rechtsmedizinischer Sicht*

  • Fortgeschrittene Leichenveränderungen, da die Diagnostik dadurch massiv erschwert ist, bis hin zur völligen Aufhebung der Identifizierbarkeit des Leichnams im Rahmen einer äußeren Besichtigung
  • Jeder Säuglingstod ohne eindeutig bekannte, todesursächliche Vorerkrankung: Kindstötungen, zum Beispiel tödliche Schütteltraumen oder Ersticken hinterlassen meist nur sehr diskrete oder keine äußerlich erkennbaren Befunde!
  • Abschiedsbrief oder andere Hinweise auf mögliche suizidale Handlung am Fundort
  • Blut, sonstige auffällige Spuren, Erbrochenes mit auffälligem Geruch/auffälligen Bestandteilen et cetera am Leichenfundort
  • Drogenutensilien, Medikamente oder etwa Pflanzenbestandteile von potenziell für Vergiftungen geeignete Pflanzen am Auffindeort des Leichnams
  • Unstimmigkeiten bezüglich des Todeszeitpunktes, zum Beispiel an die Umgebung angeglichene Temperatur trotz erst angeblich kurz davor erfolgtem Ableben
  • Hinweise auf Manipulationen am Leichnam nach dem Tod, zum Beispiel Leichenflecken nicht korrespondierend zur Lage in der Auffindesituation oder postmortale Reinigungsanzeichen
  • Auffällige Befunde am Leichnam, insbesondere an Hals und Augenbindehäuten, Einstichstellen, Hauteinblutungen und/oder -unterblutungen ohne nachvollziehbare Erklärung, offene Verletzungen, Hautverfärbungen, auffällige Totenfleckfarbe als Hinweis auf mögliche Vergiftung et cetera
  • Hinweise auf mögliche Gefahrenquellen oder gewaltsame Ereignisse in der Umgebung, etwa Sturzmöglichkeiten, Strom, Gewitter, Waffen, Gewässer, Kohlenmonoxidquellen et cetera
  • Tote aus bestimmten „Milieus“ wie Drogen, Prostitution, Rocker et cetera
  • Auffälligkeiten in der Vorgeschichte, zum Beispiel vorausgegangener Streit, Drohungen, Suizidankündigungen
  • Todesfälle in Hotels, öffentlichen Einrichtungen, Lokalen et cetera
  • Todesfälle in kalter oder heißer Umgebung
  • Tod am Arbeitsplatz, insbesondere bei mechanischen/handwerklichen Tätigkeiten
  • Leichnam im Badezimmer, insbesondere in der Badewanne: äußerlich befundarme Todesursachen, zum Beispiel Stromtod, Kohlenmonoxidvergiftung, Sturz, Ertrinken, Suizid, natürliches inneres Geschehen sind möglich
  • Leichnam im Wasser
  • Leichnam im öffentlichen Raum

* Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Reihenfolge sagt nichts über eine Priorisierung aus.

Feststellen des natürlichen Todes: Möglichkeiten und Grenzen der ärztlichen Leichenschau (2024)

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